Am 21. Januar 1947 unterzeichneten die US-Militärbehörden die Proklamation No. 3 und erklärten die Wiederherstellung der Freien Hansestadt Bremen als selbständiges Land. Mit der am 22. Januar 1947 durch den Militärgouverneur in Deutschland, Joseph T. McNarney erfolgten Veröffentlichung erlangte Bremen nach den dunklen Jahren der NS-Diktatur und den Schrecken des Zweiten Weltkriegs wieder seine staatliche Selbständigkeit.
In den Januartagen 1947 wurde die Grundlage für einen Neuanfang der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes und für die Einrichtung demokratischer Strukturen und Institutionen gelegt. Seit nunmehr 75 Jahren hat sich die Stabilität dieser Institutionen bei vielfachen Herausforderungen bewährt. Bremen hat im föderalen System der Bundesrepublik Jahrzehnte der Entwicklung von Wohlstand in Frieden und Freiheit erlebt – seit nunmehr dreißig Jahren auch im wiedervereinigten Deutschland.
All dies war im Januar 1947 keineswegs absehbar. Die Bremerinnen und Bremer blickten in einer vom Krieg gezeichneten Stadt in eine ungewisse Zukunft. Diktatur und Krieg hatten schwere Wunden geschlagen. Deutschland trug Verantwortung für unsagbares Leid in der Welt und hatte aufgehört, staatlich zu existieren. Beim Neuaufbau staatlicher Strukturen hatten alliierten und deutschen Stellen zweieinhalb Jahre um Gestalt, Status und Zukunft der Freien Hansestadt Bremen gerungen. Mit der Neugründung des Landes entschieden sich die Verantwortlichen – allen voran Bürgermeister Wilhelm Kaisen – für ein Modell, das sich historisch bewährt hatte: den Stadtstaat.
Im Umfeld staatlichen Versagens und politischer Orientierungslosigkeit konnte Bremen sich auf eigene Traditionen der Selbständigkeit, der Freiheit und einer demokratischen und republikanisch-bürgerlichen Stadtkultur besinnen. Die NS-Diktatur hatte diese zwar beschädigt und missachtet, aber nicht ganz vernichtet. Sie konnten nun als Grundlage für einen Neuanfang dienen. Man wollte eine freiheitliche und demokratische, aber zugleich auch sozial gerechte Ordnung aufbauen, der wenig später Präambel und Geist der Bremer Landesverfassung Ausdruck gaben.
1947 wurde Bremen „als selbständiges Land mit eigener Staatsregierung“ wieder in seine Rechte als deutsches Land eingesetzt, es stand aber dennoch unter Kontrolle der amerikanischen Militärregierung. Nach Kriegsende hatte Bremen zunächst ein im besetzten Deutschland einzigartiges Dasein zwischen britischer und amerikanischer Besatzungspolitik geführt. Der Wunsch der USA nach vollständiger amerikanischer Kontrolle über die Enklave und ihre Häfen führte zur Lösung Bremens aus der britischen Zone und war hilfreich bei der Bildung des Landes Bremen. Im Oktober 1946 hatte die Militärregierung erstmals öffentlich erklärt, dass Bremen als selbständige Hansestadt erhalten bleiben solle, im Dezember 1946 schied Bremen aus der britischen Zone aus. Die Proklamation Nr. 3 der amerikanischen Militärregierung schloss diesen Prozess im Januar 1947 ab. Als im Februar 1947 die Stadt Wesermünde dem Land beitrat, knüpfte man weitgehend an die historisch gewachsene Struktur der Freien Hansestadt Bremen an, mit der sich die Menschen noch immer identifizierten.
Doch wie sah diese Stadt im Jahr 1947 aus? Bremen hatte im Zweiten Weltkrieg 173 Bombenangriffe erlitten, weite Teile der Stadt waren dabei völlig zerstört worden. Auch wenn die Aufräumarbeiten schon im Krieg begonnen worden waren, bestimmten 1947 noch immer Trümmergrundstücke und Ruinen das Bild der Stadt. Zudem waren Verkehrswege und Kommunikation, Wirtschaft und Handel zahlreichen Beschränkungen unterworfen. So waren im März 1947 erstmals alle Weserbrücken durch Bombenschäden und Eisgang unterbrochen worden, erst Ende Oktober 1947 wurde die Große Weserbrücke wiederhergestellt. Auch in der Versorgung der Bevölkerung bestimmten Mangel und Einschränkungen den Alltag. Wohnraum fehlte in großem Umfang, Behelfswohnungen für Ausgebombte und Flüchtlinge waren allgegenwärtig. Da die Bewältigung des schwierigen Alltags die Menschen und auch die politisch Verantwortlichen stark beschäftigte, sind fotografische Dokumente und authentische Einblicke in die Stadt aus dieser Zeit relativ selten. Auch Fototechnik war knapp und es wurde wenig fotografiert - von systematischen Dokumentationen des Stadtbildes ganz zu schweigen.
Es ist daher als großer Glücksfall zu bezeichnen, dass das Staatsarchiv Bremen im Jahr 2015 einen ungewöhnlich großen Bildbestand aus dem Jahr 1947 erwerben konnte, der von einem ausgewiesenen Dokumentar aufgenommen worden war. Es handelt sich dabei um mehr als 200 Aufnahmen, die von einem dokumentarisch versierten Fotografen nicht mit Rollfilm-Kleinbild, sondern mit einer großen Plattenkamera aufgenommen wurden. Mit professionellem Gerät hat der Fotograf Alfred Nawrath im Spätsommer das Bremer Stadtbild dokumentiert. Die 150 besten seiner Aufnahmen werden hier gezeigt. Sie verdeutlichen die Sorgfalt, mit der Nawrath seine Dokumentation durchgeführt hat. Plätze und Leitbauten der Stadt wurden von ihm nicht nur von der Straße aus, sondern auch aus erhöhter Warte mit der schweren Fotoausrüstung aufgesucht. So entstanden bei spätsommerlichem Sonnenschein Einblicke in die Stadt und Blicke über die Stadt. Häuser und Ruinen, Menschen und der spärliche Verkehr, der eigentümliche Kontrast von sauber gefegten Straßen und hohen Trümmerbergen ermöglichen einen Rundgang mit einem dokumentarischen Blick auf das Antlitz Bremens im Jahr 1947.
Wer war der sorgfältige Dokumentar Bremens? Dr. phil. Alfred Nawrath (1890-1970) war eine schillernde Gestalt der Bremer NS- und Nachkriegsjahre. Als Oberstudienrat am Alten Gymnasium war er im März 1933 beurlaubt und später entlassen worden. Er blieb danach ohne feste Anstellung und wurde am 3. August 1945 auf Veranlassung der amerikanischen Militärregierung zum Oberregierungsrat ernannt und mit der Leitung der Behörde für Kunst und Wissenschaft beauftragt. Die Militärregierung setzte ihn im September 1945 auch als Intendant der bremischen Theater ein. Schon im Januar 1946 wurde Nawrath von diesen Funktionen entbunden und zum Direktor des Städtischen Museums für Natur-, Völker- und Handelskunde, dem heutigen Übersee-Museum ernannt. Auch dieses Amt musste er schon bald, nämlich im Juni 1947 niederlegen. Er scheint kein einfacher Zeitgenosse gewesen zu sein.
Dass er im Sommer 1947 über viel Zeit verfügte, muss man aber als Glücksfall bezeichnen. Denn dies ermöglichte ihm, sich seiner zweiten Leidenschaft, der Fotografie zu widmen - Nawrath war u.a. Fellow der Royal Photographic Society (F.R.P.S.). Seine erste Leidenschaft waren jedoch Fernreisen – was zwar 1947 noch weitgehend unmöglich war, doch schon 1949 brach er auf Einladung Jawaharlal Nehrus nach Indien auf. Schon seit den 1920er Jahren hatte Nawrath ethnologische Forschungsreisen und Expeditionen nach Asien unternommen. Auf ihrer Grundlage publizierte er mehrere, mit zahlreichen Fotografien versehene Bücher und erwarb sich einen Ruf als Völkerkundler und Fotograf. Alfred Nawrath verstarb im Jahr 1970 auf einer Marokkoreise auf der Kanareninsel Gran Canaria. 1985 wurde seine dortige Grabstelle auf Veranlassung des ehemaligen Bundespräsidenten Karl Carstens (ein Schüler Nawraths) unbefristet erworben. 2017 erinnerte Radio Bremen mit einem kurzen Filmbeitrag an sein bewegtes Leben.
Es ist unwahrscheinlich, dass Nawrath 1947 die aufwändige und teure Dokumentation Bremens allein aus Privatinteresse durchführte, zumal ein Auftraggeber nicht ersichtlich ist. Möglich ist, dass er sie später publizieren wollte. Dies unterblieb jedoch und die Glasplatten blieben ungenutzt, bis sie 2015 in das Staatsarchiv kamen.